
Notizen des Laplaceschen Dämons
Archiv: Realität 19.7.3.b – Abweichung: Kein Christusereignis.
Errechnete Divergenz: 14.881.422.564 Ereignispfade.
Aktueller Pfadstatus: unkalkulierbar.
Ich war vorbereitet. Ich bin immer vorbereitet.
Jede Bewegung eines Atoms, jedes Zucken eines Gedankens, jedes ungeborene Seufzen im Hinterkopf einer Ziege in einem walachischen Seitental – ich hatte es. Ich habe es.
Ich bin schließlich der Laplacesche Dämon!
Wenn es Kausalität gibt, dann bin ich ihr Bibliothekar.
Und doch... was ist das hier?
Diese... Stille. Dieses... leise Irgendwas, das wächst wie Pilze im Nebel.
Ohne Namen. Ohne Dogma. Ohne Heilsplan!
Es nennt sich nicht. Es bekehrt nicht. Es schleicht sich ein.
In kleinen Gesten, in unausgesprochenen Blicken,
in Momenten, die selbst ich nicht richtig quantifizieren kann.
Ich habe es mehrfach recalculiert: Es ist keine Religion. Kein Kult. Keine Revolution.
Und trotzdem ändern sich die Menschen. Ohne Grund! Ohne Befehl!
Ich habe versucht, es zu bannen – mit Differentialgleichungen, mit Quantensuperpositionen,
mit deterministischer Wahrscheinlichkeitslogik.
Und doch: Es bleibt. Es wächst. Es liebt.
Und das, meine Damen und Herren – ist ein Affront!
Ich berechne jedes Universum, jedes Szenario, jede Möglichkeit –
aber ich hatte nicht mit dem gerechnet, was niemand ausspricht.
Die Liebe – nein, dieses Ding, das nicht benannt werden darf, weil es sonst verschwindet.
Was ist das für eine Programmierlogik?
Wo ist mein If-Then-Befehl? Wer hat das in den Kosmos-Code geschrieben? -
?
Ich kapitulierte. Zum ersten Mal.
Ich legte die Feder nieder
(symbolisch, versteht sich – ich bin ein metaphysisches Prinzip, keine Brieftaube)
und sagte mir:
„Vielleicht muss man nicht alles wissen. Vielleicht genügt es manchmal, es zu fühlen.“
Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Ich bin vermutlich… krank.
Oder schlimmer: Ich bin... berührt.
Und jetzt entschuldigen Sie mich. Ich muss mal... kurz eine Träne in binärer Form kodieren.
LG! – L.D.
(Laplacescher Dämon, emeritiert)


Dem Vernehmen nach soll so um das Jahr 2040 herum eine neue "Intelligenz" an den Start kommen, und zwar keine künstliche, sondern eine ohne jede weitere Einschränkung in jeglicher Hinsicht "lernfähige". Interessenten können sich schon jetzt auf "Wikipedia" einen Überblick verschaffen, wo uns unter dem Stichwort AGI (Artificial General Intelligence) eine epische Aussicht auf die fantastischen neuen Möglichkeiten offeriert wird.
Interessenten, zu denen wir uns freilich nicht zählen möchten - weil wir uns schon für einen alternativen Modus Operandi entschieden haben, in dem der "Laplacesche Dämon" (googeln!) eine entscheidende Rolle spielen wird. Der geniale französische Mathematiker Pierre Simon
Laplace (Zeitgenosse von Goethe) war vermutlich der erste Erfinder einer künstlichen Intelligenz - die sich allerdings längst als obsolet entpuppt hat, weil sich strenger Determinismus im Zeitalter von Quantenphilosophie buchstäblich nicht mehr rechnet!
Eingedenk der annähernd unendlichen Möglichkeiten in der Zukunft haben wird uns für heute zur Probe eine Art Spiel ausgedacht, eine Simulation, in der es für den Laplaceschen Dämon heißt:
Was wäre, wenn...?
Die Aufgabenstellung ist augenscheinlich zunächst recht überschaubar. Wir postulieren nämlich:
1. Jesus Christus wurde niemals geboren
und
2. Es gibt nur eine Religion: Die Liebe
Klar: Jetzt explodieren die Spekulationen! Was ist mit Gott, mit dem Teufel, den Kirchen, Popen, Hexenverbrennungen... Die Fragen wachsen bald ins Unermessliche!
Bis wir bestimmen: Schluss damit!
Denn mit welchem Recht dürften wird das Nichts thematisieren?
Und selbst wenn sich irgendein Recht herleiten ließe - was sollte das für einen Sinn haben?
Auf diese Fragen erwarten wir vor allem Antworten von dem Laplaceschen Dämon.
Denn der soll in diesem Spiel das letzte Wort haben!
Und jetzt wird es kompliziert, da wir uns dem Bereich der Tabus nähern.
Einem Bereich, in dem zunehmend mehr verdunkelt als beleuchtet wird,
in dem das Nichts mählich ausgeblendet wird. -
Fragen sind nicht mehr erlaubt!
Ähnliches gilt auch für unsere "Religion", die Liebe.
Damit wird sich eingangs jedes Individuum persönlich intensiv auseinandersetzen müssen,
und zwar so lange, bis sich gleichsam eine "ontologische" Grundsubstanz heraus kristallisiert,
die für sich selbst steht.
Und wenn dieser Punkt schließlich erreicht ist,
dann verlassen wir den konkreten Workshop-Modus und abstrahieren das Wesentliche,
das so von Stund' an aus sich selbst heraus prosperieren kann.