Was hat diese Unregelmäßigkeit zu bedeuten? Und wie ist der Umstand zu erklären, dass die Damen nicht Nadine, Marie-Christine oder Chantal heißen - wie es sich gehört! - sondern Gertrud, Isolde, Waltraut oder Paula, die Männer nicht Thorben, Timo oder Fabian, sondern Friedrich-Wilhelm, Helmut und Heinz gerufen werden?

Richtig: Schauplatz der Zusammenkunft ist das alte Gymnasium, die Darsteller ein Heer “Ehemaliger”. Ein illustre Schar von Wissenschaftlern und Künstlern aller Couleur gibt sich zum 175. Geburtstag ihrer ehemaligen Lehranstalt ein Stelldichein: Professoren der Psychopathie, Alt-Alologen, Paläofuturologen, Neohistoriker, Astroökonomie-Experten, Meister der kontextfreien Tragikomödie, Geheime Human-Veterinärräte u. dgl. mehr.

Sogar die Supervisors des gastgebenden Institutes, die Herren Direktoren, sind angesichts der massiven geistigen Wucht und Präsenz sichtlich um gute Selbstdarstellung bemüht. Behend smalltalkend wieseln sie verbindlich durch die Reihen derer, die sie einstmals so lustvoll zu peinigen wussten.

Ein kollektives Zeitreise-Gefühl verwirrt bald die 1300- Kubik-Schüsseln. Haus, Hof, Weib und Vieh, Kind, Ke gel, Eigenheim und Neurose sind für einige Stunden vergessen. Man taucht ein in die Vergangenheit, schnappt gierig nach Reminiszenzen - um freilich die eine oder andere nach kurzem Abschmecken schnell wieder auszuwürgen.

Wie war das doch noch gleich mit der Kausalität? Werden Emotionen durch chemische Prozesse ausgelöst - oder sind, anders herum, Gefühle zuerst da und steuern die Chemie? Oder findet beides gleichzeitig statt und ist am Ende irgendwie quasi identisch?

Und wenn der Körper tatsächlich Morphine und Amphetamine selbst produzieren kann, wozu sind wir dann eigentlich noch Beschaffungskriminelle? Wie kann man das Zeug isolieren, extrahieren, aktivieren - halt einfach schnapppen und schlukkken?

Kein Problem: Zwei Bierstände weiter finden wir einen schwerkompetenten Magnaten der internationalen Biochemie-Szene, der gleichzeitig Großmeister der Reiz- und Reaktionsforschung ist.

“Hallo Ottokar!”

“Hallo Jungs!”

Komisch, dass sich innerhalb von 20 Jahren alles mögliche ändert: Die Haare fallen aus, Bärte sprießen oder werden geschoren, der Mann trägt seinen Gürtel im Frontbereich gern mit einem kleinen, schwungvoll modischen Abwärtsbogen, die eine oder andere Omme - weh! - bläht sich über Gebühr auf, ja so mancher Kandidat von einst ist phänotypisch bald gar bis ins Unkenntliche mutiert. Nur dreierlei ändert sich erstaunlicherweise offenbar überhaupt nicht: Das soziale Verhalten, der Charakter und die Intelligenz. Egal, ob einer Pissjockey in den städtischen Toiletten von Neugablonz, Chefinspektor der geheimen Bahnpolizei (Gebapo) Eisbergen oder Stabsoberpraelat im vatikanischen Kriegsministerium würde, er bliebe wohl so oder so immer der gleiche, geizige oder großzügige, nette oder niederträchtige Mensch ...

Mit Ottokar gibt es unterdessen ein Problem: Der Junge bringt seine Potenz im Bezug auf die Geschichte mit der Chemie und den Emotionen einfach nicht rüber. Sein induktiver Ausholversuch riecht verdächtig nach zwei, drei öden Sülzstunden. - Eine wissenschaftliche Theorie, doziert der Professor, sei nicht mehr als ein mathematisches Modell, “das wir entwerfen, um unsere Beobachtungen zu beschreiben.”

“Was ist denn aber nun, wenn man schlecht kukkken kann oder wenn man langweilige oder doofe Dinge beobachtet, weil man keinen Geschmack hat und sowieso einen Sinn für Ästhetik wie ein Meerschwein?” Die leicht pikante Note, die Dr. Vögeli, ein aus der Schweiz angereister Ehemaliger, einbringt, greift: Das Gespräch ist beendet, bevor es richtig begonnen hat, und die kleine Gruppe, die sich allmählich aus dem offenen, ungeordneten Haufen gebildet hat, gewinnt an kosmischer Eigendynamik, bewegt sich bereits ohne Absprache gemeinsam an die nächste Theke.

Nett, die Modenschau der kleinen Mädchen, die, teils nur spärlich verhüllt, über die Bühne hüpfen - verfolgt von den lüsternen Blicken der “Schöler”, denen in den sechziger Jahren noch täglich die Daumenschrauben strammgezogen wurden. Damals hatte die Lehrerschaft noch tüchtig Mumm in den Knochen! Psychoterroristische Schreierei, Rückhandschellen übers Maul - auch mal ohne Grund, Einschüchterung durch das Androhen schwerster Strafen - da war das Leben noch richtig spannend. Das waren noch Herausforderungen. Tadellos! Antreten in Reih’ und Glied, durch Ohrfeigen besonders gut “Rechts Schaut” lernen, vom Hocker hochschnellen und “jawoll, Herr Professor” brüllen...

Besonders gern hat der eine Herr Professor übrigens kleine, behinderte Mädchen gequält. Die mussten sich regelmäßig bäuchlings über den Tisch legen, dann hieß es “Hosenriemen ab!”, und schon sauste das Leder auf den Rücken der zu Bestrafenden. Zucht und Ordnung, 1a! Wie anders, bitte, sollte ein Mensch sonst wohl zu einem echten Humanisten und Geistesriesen herangebildet werden?

175 Jahre ist die Lehranstalt alt geworden. Nett anzuschauen, wie gesagt, die revueartige Nachstellung verschiedener geschichtlicher Epochen auf der Bühne. Klasse auch die “Moonflower Band” mit ihrer Parodie auf die “entartete Kunst” der Ära Schicklgruber. Die Jungs waren so gut, dass man sie 50 Jahre zuvor mit Sicherheit tatsächlich erschlagen hätte.
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Rezension von ChatGPT
Die Erzählung "Geistesriesen" schildert ein faszinierendes und gleichzeitig humorvolles Wiedersehen ehemaliger Schüler einer altehrwürdigen Lehranstalt, die zum 175. Jubiläum ihres Gymnasiums zusammenkommen. Der Text ist eine satirische Reflexion auf die Eigenheiten und Erinnerungen der Teilnehmer und verwebt gekonnt Nostalgie mit bissigem Humor.

Die Sprache des Textes ist lebendig und farbenfroh, mit einem Hauch von Ironie und Spott, was die Charaktere und Situationen besonders lebendig macht. Der Leser wird in die vergangene Schulzeit der Teilnehmer zurückversetzt, erlebt ihre nostalgischen Erinnerungen und die manchmal grotesken Auswüchse ihrer intellektuellen Diskussionen. Die Anekdoten über die strenge Disziplin vergangener Zeiten und die scharfen, teils grausamen Lehrmethoden zeichnen ein eindrucksvolles Bild der damaligen Schulzeit.

Ein weiteres Highlight ist die detaillierte Beschreibung der Modenschau und der Performance der "Moonflower Band", die den Text mit einer weiteren Schicht von Satire und Ironie bereichern. Besonders bemerkenswert ist die humorvolle und zugleich kritische Darstellung der Veränderungen, die die Teilnehmer äußerlich durchgemacht haben, während ihre inneren Eigenschaften unverändert geblieben sind.

Der Text enthält auch eine subtile Kritik an der Selbstverliebtheit und dem Bestreben nach Selbstdarstellung der modernen Intellektuellen, die sich in den Figuren der aktuellen Direktoren widerspiegelt. Diese bemühen sich sichtlich um eine gute Figur angesichts der intellektuellen Übermacht ihrer ehemaligen Schüler, was einen weiteren humorvollen Kontrast schafft.

"Geistesriesen" ist eine meisterhaft geschriebene, humorvolle und tiefgründige Erzählung, die den Leser zum Lachen bringt, aber auch zum Nachdenken anregt. Sie zeichnet ein lebendiges Bild von einem außergewöhnlichen Klassentreffen und beleuchtet dabei die beständigen und unveränderlichen menschlichen Eigenschaften. Der Autor versteht es, durch eine gelungene Mischung aus Satire, Ironie und Nostalgie eine faszinierende Geschichte zu erzählen, die lange im Gedächtnis bleibt.
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Wenn alte Kameraden sich nach vielen Jahren einmal wiedertreffen, dann gibt es viel zu erzählen. Man träumt phantasiereich von den Sünden früher Jugend... und hüllt die Gegenwart gern in einen sanften Mantel der Lüge.
Eine einmalige, ja exorbitante Veranstaltung sprengte jetzt in unserer Stadt alle bisher gekannten Rahmen. Das hatte man noch nicht erlebt, dass an einem Wochenende eine tausendköpfige Bande überqualifizierter Geistesriesen einfällt, den Rechten von Feuerwehrkapellen, Fanfarenzügen und Bratwurstbuden hohnlachend fünftausend Liter Bier herunterschluckt und nach drei Tagen auf Nimmerwiedersehen wieder in der Versenkung verschwindet!